19
Jan
2009

Keine Solisten

Ich war heute abend wieder in der Musikhochschule. Es gab eine 'Nacht der Schulmusik', gestaltet durch Studierende des betreffenden Studiengangs. Alles war dementsprechend etwas legerer und weniger akademisch. Jeans und Jeans statt dunklem Anzug und Abendkleid. Was mich überraschte, war, dass drei Vokalensembles auftraten, die ihre Arbeit recht gut machten.

Man sah den (jungen) Gesichtern nicht weniger als den Körpern an, dass es noch einmal etwas anderes war, ganz ohne die stützende Begleitung eines Instruments auf der Bühne zu agieren. Noch dazu war der Raum (Kammerkonzertsaal) recht intim, der weiteste Abstand zu den Zuschauern mochte zehn Meter gewesen sein. Andererseits macht gerade das auch die Faszination aus. Man konnte sehen (oder zumindest ahnen), wie die jungen Männer und Frauen darum kämpfen mussten, nicht nur ihre Stimmen nach vorne zu tragen, sondern in gewisser Weise auch ein Stück ihrer Selbst einsetzen zu müssen - mehr jedenfalls, so kam es mir vor, als das 'normalerweise' auf einer großen, anonymen Bühne der Fall ist.

Nicht allen gelang das gleich gut. Manche wirkten ausdruckslos und steif. Aber in der dritten Gruppe war eine junge Frau, schmal und zierlich, mit dunklem Haar und - vielleicht - einer französischen Physiognomie. Sie hatte einen schönen Sopran und vor allem: sie hatte ein gewisses Feuer und eine anmutige (obwohl ganz zurückhaltende) Körpersprache, die beide zusammen, da bin ich mir sicher, bewirkten, dass sie ihre Stimme und ihren Gesang gleichsam ein ganzes Stück weit nach vorne trugen. Das war schön zu sehen. Und auch zu hören.

Bei früheren Besuchen ist mir eine solche Häufung von Vokalensembles nie aufgefallen. Ich habe mir gedacht, dass vielleicht auch gerade die Lehramtskandidaten mehr als früher Gemeinschaft, Solidarität, aber auch Absicherung in der Gruppe suchen. Es gab kaum Solisten. Ist dagegen etwas einzuwenden?

18
Jan
2009

Dieser Winter

Dieser Winter auf dem Diwan..
Kakao und Lebkuchen, was uns
zusammenhält. Dir zuzusehen,
wenn du Milch und das dunkle
Pulver mischst, während draußen
die Schneeflocken nicht wissen
wohin.

17
Jan
2009

Was riecht so?

(Leipzig, Nov. 87)
Eine ihrer Gelegenheitsarbeiten in dieser Zeit ist, dass sie hilft, die 'Leipziger Volkszeitung' auszuliefern. So wird ihre erste gemeinsame Nacht ein früher Morgen. Als sie aus dem Gebäude kommt, sitzt Frederik auf dem Treppenabsatz. Er wartet, bis sie ihn erkennt. Dann steht er auf, und sie drängt sich wortlos an ihn.

"Was riecht so?" will er wissen.
"Lauter Lügen", sagt sie. "Druckerschwärze, Zeitungspapier."

16
Jan
2009

Eine junge Frau

Eine Lampenfassung, dann, nach ein paar Tagen, eine Glühbirne zu vierzig Watt (zwei zur Reserve). Eine Decke aus Kunstfaser für Nächte, in denen die Stromversorgung zusammenklappt. Ein Zeltplatz in Polen, mit Freunden, die ein Faltboot haben. Gute Bücher. Sie hat eine Frau an der Hand, die über ihre Freundin Bücher ausleiht, vorweg.

Ein knappes halbes Jahr kennt er sie nun. Sie redet von Gerechtigkeit, naiv, ohne zu wissen, was das sein soll. Von der Einheit mit der Natur. Geplappert mit dem Bewusstsein, dass es damit in der Republik nicht weit her sein kann. Von 'Frieden schaffen ohne Waffen', im eigenen Land. Drauflos geredet, vielleicht nur weil ihr ein hübscher Bursche gefällt, mit langen Haaren und ausgeflippten Klamotten, dem sie imponieren will. Der freche Sprüche drauf hat, bis er mit seinen Freunden von der Volkspolizei aufgemischt wird.

Meist gibt es einen ablesbaren Weg, denkt Frederik. Vor ein oder zwei Jahren noch ein Mädchen wie tausend andere. Das westliche Rockmusik und Filmstars mag und hier und da junge Burschen an der Leine hat, zwischen denen sie changiert, im Dauerclinch mit Eltern, Schule und überhaupt mit allen, die ihr reinreden wollen. Und da gibt es genug in der Republik.

Bettina Jaenicke ist zweimal verwarnt worden: wegen ihrer „pazifistischen Äußerungen“ und der frühkirchlichen Ideale, die sie in der FDJ vertreten hat. Sie wird nicht studieren dürfen. Doch für eine junge Frau ihrer Überzeugungen und mit einem Pfarrer als Vater ist das nichts Besonderes. Zurzeit arbeitet sie als Packerin, füllt die leeren Regale auf in einem Konsum-Laden. Frederik hat sich ihr nach Akteneinsicht genähert: die Überwachungsprotokolle, die Observationen, die Materialsammlungen zur Beweissicherung. Eine Einweisung durch Vorgesetzte und Kollegen geht voraus. Sie sind ein Kollektiv. Nicht er, sie soll der Verführer sein.

"Du glaubst, dass das geht?"
Gleich ist Unwillen in ihrem Blick. Die Frage des Vaters ist längst vertraut und weist auf ihren uralten Streit. Und nervt.
"Was soll das? Warum fragst du?"
"Ein demokratischer Sozialismus - ohne Zwangsmaß-nahmen, die den Menschen zu ihrem Glück verhelfen sollen?"
"Ja warum denn nicht?"

Jetzt hat sie ihre eigene kleine Wohnung. Ein Zimmer. Seither kommen sie und ihr Vater besser zurecht. Jeder hat sein eigenes Leben. Und nun zieht es Bettina wieder öfter ins Pfarrhaus, und wenn auch nur, um Wäsche zu waschen oder zu baden. Jaenicke verliert nie ein Wort über Bettinas häufige Badevergnügen, früher sind ihm immer einen Streit wert gewesen. Danach gibt es noch, von Klärchen ermuntert, ein deftiges Abendessen, in der Wohnküche, die einen direkten Zugang zum Innenhof hat. Landbrot mit Gänseschmalz, die der Vater einmal im Monat von einem LPG-Mitglied erhält. Ein ehemaliger Bauer, den er beim Sterben begleitet hat und der sich danach wunderbarerweise erholt hat. Seither Brote und Gänseschmalz.

Ihre Haare sind flachsblond geblieben seit der Kindheit. Evelyn, die Mutter, sagt einmal, dass es Vergleichbares nur auf den Gemälden flämischer Meister gebe. Sie sagt es zu ihrem neuen Mann, als Bettina zu Besuch ist, und Bettina lässt es schon deswegen nicht gelten. Aber die nachgedunkelte Eiche der altmodischen Küche im Pfarrhaus, mit Büfett und Eckbank, wirkt gleich heller und freundlicher, wenn Bettina eintritt. Der Vater bemerkt es und schaut ihr umso freudiger entgegen. Das Kind ist ihm zu mager. Ein flaches Hinterteil, lange Beine, an denen große Füße hängen, wie an einer Marionettenpuppe. Das macht ihren Gang etwas linkisch, doch nicht ohne Reiz.

Das Wort 'Gardemaß' ist ungebräuchlich im Pfarrhaus, das Distanz hält zur sächsischen Militärtradition. Dennoch scheint Bettina schon früh den Vergleich anzustreben, indem sie bis auf eins zweiundachtzig heranwächst. Jaenicke selbst geht ein wenig gebeugt. Vielleicht hat der Gottesdienst das Seinige dazu getan. Die Mutter hingegen hat ihre Statur gehalten, vor allem seit sie der Partei beigetreten ist. Das richtige Bewusstsein hält den Körper aufrecht.
Nach anderen weiblichen Phasen herrscht, da sie gerade achtzehn ist, bei ihr die Phase des Versteckens vor. Weite, ausgebleichte Jeans und zu groß gestrickte Pullover, unter denen sie Unterwäsche aus Westproduktion trägt. Geschenke der Mutter, Ware, die der ‘Herr Kurt‘ organisiert, der als Direktor bei der VEB-Deutrans Zugriff auf grenzüberschreitende Geschäfte hat. Von jungen Männern, die sie darin sehen dürfen, kommen freilich, wenn sie's recht besehen, darüber keine Klagen.

Zumeist erscheint sie in Jeans oder einem Wickelrock, dazu trägt sie ein Hemd oder einen ihrer Pullover, an denen sie ständig strickt. Sie tritt neben den Vater, den sie überragt, legt die große, schmale Hand auf seine Schulter und küsst ihm die zugewandte Wange, was sie gerne tut, das Gesicht gerötet, ein Badevergnügen.

Der Raum liegt halb versteckt unter einem mächtigen Walnussbaum. Im Sommer ist es kühl, in der kalten Jahreszeit dunkel. Der Innenhof hat einen schmalen, an vielen Stellen abbröckelnden Chorgang, der durch ein Backsteinmäuerchen begrenzt ist. Als von der Baubrigade keine Hilfe kommt, hat man die Mauer einfach selbst mit Mörtel zugeschmiert, um den Verfall aufzuhalten.

Jaenicke sieht wehmütig aus dem Fenster. In seiner Erinnerung füllt sich der Hof mit jungen Menschen. "Ich sehe euch immer noch da draußen, wie ihr..."
"Vorbei. Vorbei. Das hat sich verlaufen“, schneidet Bettina ihm das Wort ab. Zuerst will sie so lakonisch bleiben, weil es leicht Streit gibt. Dann, während sie eine Scheibe von dem guten Brot mit dem leckeren Schmalz beschmiert, setzt sie nach: „Das weißt du doch, Vater. Einige sind jetzt drüben. Manche interessiert es nicht mehr. Die haben andere Sorgen. Die meisten, die ich kenne, wollen einfach ihre Ruhe. Ihre Eltern sowieso. Devise ist wie überall: Wenn's sein muss, mitmachen, ansonsten sich aus allem raushalten."

Jaenicke nickt. Das ist auch sein Prinzip. Seit einigen Jahren fällt es ihm immer schwerer zu erkennen, wohin sein Herr ihn führt. Manchmal kommt es ihm so vor, als sei es der Weg, den einige seiner Glaubensbrüder an der Nikolaikirche gehen. Dann wiederum scheint der Herr ihn darin zu bestärken, auch die Folgen zu sehen: das Leid der Männer, Frauen und Kinder.

Die meisten derer, die sich der Nikolaikirche zuwenden, haben mit der Kirche selbst nichts im Sinn, sondern suchen nur ein Schlupfloch vor dem Zugriff der Behörden. Kaum einer von denen würde gegen den staatlich verordneten Atheismus protestieren. Und das ärgert ihn.
Es ist ein Konflikt, den er nicht nur mit seinem Gott austrägt, mit dem er sonst sehr gut auskommt. Es ist ein mäßigender Gott, der auf Ausgleich drängt und zudem ein ähnlich phlegmatisches Naturell besitzt wie er selbst. Er trägt den Konflikt auch mit Bettina aus, seit sie sich der Nikolaikirche zuwendet, wo sie Gleichgesinnte findet, Anlass und Verführung. Jaenicke wehrt sich lange Zeit dagegen, dass es an seiner Kirche ebenso sein soll.

Wer neu einzieht, bekommt vom Hauswart auf dem Weg zu seinem eigenen Kellerverschlag die Geschichte, dass hinter der Mauer noch skelettierte Körper lagern, erstickt gegen Kriegsende an Feuersturm und Druckwelle. Das Zimmer misst drei fünfzig auf vier Meter und ist schlecht isoliert, mit Kohleofen und schrägen Wänden, sodass nie lange hält, was sie anklebt. Über der unansehnlichsten Stelle hat sie 'Schwerter zu Pflugscharen' angebracht. Jetzt ist das Plakat selbst schon stockfleckig. Es gibt nur ein Fensterchen, so hoch gelegen, das allenfalls die Aussicht auf rauchende Kamine erlaubt ist. Ringsum eine zusammengeflickte Dachlandschaft, die unversehens abstürzt in einen Hinterhof, vier Stockwerke tief.

Im Haus und im düsteren Hinterhof ist Kindergeschrei reglementiert: Nicht in der Mittagszeit sowie nach Einbruch der Dunkelheit, wann immer das sein mag. Der Hinterhauskeller ist verschüttet geblieben, zugemauert mit kaiserlichem Backstein. Das Klo, auf halben Weg zur unteren Etage, teilt sich Bettina mit drei Parteien. Toilettenpapier bringt jeder selbst mit. Dass sie empfindlich ist, merkt sie erst jetzt (Klärchen Matussek hat stets auf Sauberkeit gehalten). Wenn sie Freunde erwartet oder den Vater, putzt sie auch außer der Reihe das Klo. Bad gibt es keins. Andere Mieter haben sich selbst eines gebastelt, Nasszellen mit wagemutigen Schlauchkonstruktionen. Doch Bettina nutzt lieber das pfarramtliche Badezimmer. Für das flachsblonde Haar hat sie sich eine Wanne besorgt, Emaile, außen blau und innen weiß, über die sie sich beugt. Ab und zu setzt sie sich auch mit etwas heißem Wasser vom Herd, einem Lieblingsbuch und Schokolade hinein. Lektüre können Reiseerzählungen sein, durch ferne Länder, oder die melancholischen Russen. Diese wunderbaren vergeblichen Liebesgeschichten. Aushilfsweise arbeitet sie an Samstagen in einer Buchhandlung und teilt sich mit den anderen Frauen dort in ein knapp bemessenes Deputat. Sie ist eine emphatische Leserin, gierig, schnell, ohne Rücksicht auf Nahrungs- oder Schlafbedürfnisse, offen für jede Geschichte, die man ihr anbietet. Bereit, wenn nicht alles, so doch vieles zu glauben, überzeugt, nicht mit Unwichtigem, Langweiligem behelligt zu werden.

Die Schokolade schickt ihr die Mutter aus Berlin. Belgische Markenware, Herrenschokolade, wegen des hohen Kakaoanteils. Damit sie was schmeckt. Früher hat sie die Verpackung hinters Bett geheftet und mit dem Glanzpapier gebastelt.

In der Wanne hat sie sich noch von keinem sehen lassen. Da das Ding jedoch kaum zu verbergen ist, kursieren Gerüchte. Wen sie unters Dach einlädt, den bewegt sie beizeiten zum Gehen oder Bleiben. Sie hat hier oben schon Männer empfangen, seitdem sie Frederik kennt ohne Zweifel ihn am häufigsten.

In den Basisgruppen redet sie nun mit, ohne Scheu etwas Dummes zu sagen. Manchmal treffen sie sich hier oben zu Keksen und Hagebuttentee. Den gibt es im Pfarrhaus seit ihrer Kindheit: im Winter dampfend heiß, im Sommer gekühlt. Sie weiß lange Zeit nicht, ob sie ihn hasst oder ob er ihr lieb ist. Jetzt ist er hier oben angekommen.

Franz gießt Slibowitz dazu. Ein stilles, klares Glucksen. Es ist kalt. Draußen quetscht sich Smog zwischen die Straßen und Häuserblocks. Im Zimmer drängen sich Pascal, Erwin, Markus, Nicole, Manuela und Bettina. Frederik führt sich die Namen vor Augen: Was für eine weltoffene Versammlung.

Er hat in ihrem Dossier, wie es in der 'Runden Ecke' geführt wird, eine frühe Aktennotiz über die Eltern gefunden: 'Trennung aus persönlichen und ideologischen Gründen. Lässt für die Zukunft Einwirkungsmöglichkeiten erwarten.'

Wer das Pfarrhaus unter einem gemauerten Portal hindurch betritt, weiß, was er tut, denn es ist von allen Seiten einsehbar. Die Räume rechts im Erdgeschoss sind Wohnung, links finden sich Pfarrbüro und Gemeindezentrum. Da es die Familie so nicht mehr gibt, besteht Bettina nach der Trennung der Eltern darauf, dass an der Klingel nur der Name des Vaters erscheint und ihrer. Damit für jeden erkennbar ist, dass die Mutter hier nicht mehr lebt, sondern in Berlin, näher an der weltberühmten Charité. Acht Jahre ist das her. Der Vater hingegen hat sich an seine Pfarrgemeinde gebunden gefühlt.

Die Mutter hat als Anästhesistin im 'Roten Haus' des Universitätsklinikums gearbeitet. Für die Wünsche des Kindes zumeist unabkömmlich. Der Vater hingegen ist greifbar, sofern Bettina sich an geweihte Erde hält. Und doch ist Bettina nicht selten mit dem Rad quer durch die Stadt unterwegs, erst glücklich, wenn ihr nach langem Warten vor dem roten Backsteinbau die Mutter in die Arme läuft.

Mit Zehn beschließt sie, beim Vater groß zu werden, obwohl sie Zöpfe trägt, beidseitig geflochten, was ihr am Morgen die Mutter tun muss, während Bettina sich ein Marmeladenbrot ums andere in den Mund stopft. Schluckweise Kakao dazu, damit es besser rutscht.
"So halt doch still!" ist ein beliebter Satz. "Ist jeden Morgen dasselbe. Was sagt eigentlich deine Lehrerin, wenn du zu spät kommst?"
"Nichts. Die denkt, ich hab gebetet."
"Hast du etwa?"
"Nö. Aber gesagt hab ich das. Und die Zelicke ist doch selbst... na, jedenfalls guckt die dann immer so komisch, als hätt' ich sie aufm falschen Bein erwischt. Wenn wir beim Gronitz haben, flutscht das natürlich nicht."
"Und was sagst du dem?"
"Musste furchtbar schnell mal für die Pioniere flitzen. Allzeit bereit!"

Die Mutter zweifelt die Entscheidung Bettinas, beim Vater zu bleiben, zu deren großen Kummer nie an. Kläre Matussek, die Haushälterin, geht Jaenicke und Bettina seither allein zur Hand. Eine umsichtige Frau, die sich die Hände an der Schürze abstreift, selbst wenn sie trocken und sauber sind. Die schlesisch kocht, wie sie es gelernt hat, in Mengen, die der Mutter nie sympathisch waren. Die nach einem rotierenden System putzt, in dem die Jahreszeiten eine Rolle spielen ebenso wie die vorherrschende Windrichtung. Der Mutter, keine Hausfrau aus Passion, ist das nie geheuer.

Darüber hinaus, beteuert Klärchen, wie Bettina sie zärtlich nennt, wolle sie sich um nichts kümmern. Tut sie es doch, beginnt es ganz harmlos. "Ach Kindchen!" ruft sie und zieht Bettina neben sich auf die mit dünnen Kissen belegte Bank neben dem Ofen. "Nu sag schon, was ist dir über die Leber gekrochen? Dafür ist dein Klärchen doch da!"

Ein fremder Mann, den Bettina 'Herr Kurt' nennen soll. Er hat der Mutter beim Umzug geholfen. Alle tun, als wäre das selbstverständlich. Und wirklich: er ist groß wie der geborene Möbelpacker. Aber zwei Blicke und ein paar Worte zwischen ihm und der Mutter genügen, damit auch das Kind begreift, dass er der eigentliche Möbelpacker nicht ist.

Einen Tag nach dem Umzug kommt Bettina mit stoppelkurzem Haar nach Hause. Kathi und Hilde haben ihr geholfen. Allzeit bereit. Daran erkennt man die wahren Freundinnen. Jeder kann jetzt sehen, dass sie die Mutter nicht mehr braucht.

Manchmal schickt ihr die Mutter Bücher, auch westliche Titel, da und dort angestrichen und mit dem eiligen Bleistift der nervösen Anästhesistin kommentiert. Auch wenn zweifelhaft scheint, ob diese herausgehobenen Kommentare wirklich Bettina meinen (nicht selten wirken die Romane zerlesen, durch viele Hände gegangen - ähnlich denen einer Leihbücherei, wo Einträge kaum noch auf den Urheber zurückgeführt werden können), so bezieht sie doch wie bei einem allgemein gehaltenen Horoskop unwillkürlich alles auf sich und auf ihr Leben. Es ist die intimste Verbindung, die zwischen ihnen geblieben ist.
.

Du sollst in die Richtung gucken, in die du gehst!

Im Café stößt sich ein Kind rückwärts an einem Stuhl.
Ein Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt.
Die Mutter sagt: „Ich habe dir schon hundertmal gesagt,
du sollst in die Richtung gucken, in die du gehst.“

Irgendetwas weckt meinen Widerspruch. Aber was?
Kurz darauf fällt mir eine Stelle aus einem Gedicht
über den Tod von Alfred Freiherr von Oppenheim ein:

"Was, fragt Gia, ist ein melancholischer Geist?
Einer
, sagt Patrizia, der beim Vorwärtsgeschobenwerden
noch rückwärts schauen kann.
"

15
Jan
2009

Für Elke

Ich habe es schon einmal mit Wjatscheslaw Kuprianow gemacht: Angenähert an bestimmte Motive wie Nation, Generation, Heimat, Liebe, Natur, Kindheit stellten wir unsere oft sehr unterschiedlichen Erfahrungen gegeneinander. Wir präsentierten dieses Programm einige Male in der Öffentlichkeit des Künstlerhauses NRW in Schöppingen. Es waren (wie ich glaube) für alle Beteiligten beeindruckende Abende.

Seit einiger Zeit kenne ich nun die Gedichte von Elke, schätze sie sehr und bewundere den Sprachrhythmus und die Produktivität der Autorin. Bei ihrem aktuellen Text/Gedicht hatte ich gleich das Gefühl, dass sich hier vielleicht zwei ähnliche Erfahrungen überschneiden bzw. ergänzen. Und so erlaube ich mir nun, Elkes Gedicht ("Dein sanfter Atem neben mir") und meinen Text ("Landkarte") nebeneinander zu stellen.

__________________________________

Landkarte


Eines der frühesten Bilder,
das Einzug hielt ins Haus war Peter
Brüssings Landkarte No. 34.
Irgendwann wanderte sie ab
ins Kinderzimmer.

Vielleicht kam mir die Welt
stets überschaubar vor,
weil wir mit Blick auf die einzige
Kreuzung der Stadt lebten.

Stürmische Zeiten.
Doch früher war der Himmel
ein Drache mit Feuer und Rauch.

J.L.


Dein sanfter Atem neben mir
Das kaum sichtbare Heben und Senken
Des Brustkorbs

Auf der Leine vorm Haus tanzt die Wäsche im Wind
Die kurzen Hosen, die zielstrebigen Hemden
Während du schläfst

Deine Locken auf dem Kissen mit den Enten
Nebenan kämpft Dein Bruder mit Drachen
Eure Pfirsichhaut durchduftet den Tag
Weil eure Hände noch die Welt fassen
Und nicht das Nichts der Gedanken

https://elkeerzaehlt.twoday.net

Wettbewerb um den Alfred-Döblin-Preis

Ich habe heute auf den letzten Drücker mein Typoskript für den Wettbewerb um den Alfred-Döblin-Preis 2009 abgeschickt. Natürlich mit Einschreiben. Es sind die ersten vier Kapitel meines Romans 'Reichstage', insgesamt etwa 180 Seiten (von etwa 600).

In der Ausschreibung des Preises, der seit 1979 alle zwei Jahre vergeben wird, heißt es:

Der von Günter Grass gestiftete und vom LCB in Kooperation mit der Akademie der Künste ausgerichtete Alfred-Döblin-Preis wird im Frühling 2009 zum siebzehnten Male verliehen. Der Preis, der in diesem Jahr mit 15.000 € dotiert ist, wird im Sinne des Stifters für ein längeres Prosamanuskript vergeben, das sich noch in Arbeit befindet. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die mindestens eine eigenständige Buchveröffentlichung vorweisen können; einzureichen sind mindestens fünfzig Seiten Text. Die Manuskripte müssen bis zum 15. Januar 2009 beim Literarischen Colloquium Berlin, Stichwort Alfred-Döblin-Preis, eingereicht werden. Über die Vergabe entscheidet eine unabhängige Jury.

'LCB' ist das Literarische Colloquium Berlin , eine hochkarätige Institution für deutsche wie für ausländische Autoren. Es organisiert den Wettbewerb. Im letzten Jahr haben sich etwa 500 (!) Autoren beworben. Das ist, salopp gesagt, eine Menge Zeug, in dem man leicht untergehen kann. Und weil der Preis sehr angesehen ist, sind sicher viele namhafte Kollegen dabei. Die Preisverleihung (durch Günter Grass) findet übrigens in der Akademie der Künste statt, die bekanntlich wieder am Pariser Platz in Berlin (unmittelbar am Brandenburger Tor) residiert.

14
Jan
2009

Die Große Woche

Wie jedes Jahr trafen sich zur Großen Woche die schönsten Huren Europas, die reichen südamerikanischen Drogenbosse, Banker, Industrielle und Politiker, um Geschäfte zu machen. Rodrigo, schlank, mittelgroß, mit schwarzem, im Nacken zusammengebundenem Haar, war mit seiner Privatmaschine über London, Prag und Zürich nach Baden-Baden gekommen, hatte Antigua und Helen an der Côte aufspüren lassen, wo sie den Sommer über arbeiteten, und in die Stadt bestellt.

Während sich in den Suiten der Luxushotels die Zimmermädchen am Morgen normalerweise durch Schwaden des süßlich-brennenden Haschischgeruchs zu den Fenstern kämpfen mussten, um die Räume zu lüften, und in der Rennwoche die verschärfte Anweisung galt, den feinen Kokainstaub spurenlos von den Glastischen zu wischen, übten sich gerade die Südamerikaner in Puritanismus, was Rauschgifte anging, und achteten peinlich darauf, kein Zehntelgramm bei sich zu tragen. Von ihren Leibwächtern wurde racehorse1 erwartet, dass sie die handlichen Schnellfeuerpistolen, die sie mit sich führten, für die Dauer des Aufenthaltes in den Safes der Hotels deponierten, wo sich zeitweise die Waffen so häuften, dass Verwechslungen vorkamen. Mit den ungeduldigen Herren ergaben sich schwierige Situationen, und eine Art Garderobenmarke musste eingeführt werden.

Rodrigo kümmerte sich nicht um solche Dinge. Er war gekommen, um Geschäfte zu machen, bei denen er sein Geld in Europa anlegen konnte. Drogen und Waffen durften nicht in seine Nähe.
Im Grunde, pflegte er im hart klingenden kolumbianischen Spanisch zu sagen, bin ich nicht hier!
Und obwohl er über zehn Jahre lang zweimal jährlich in die Stadt kam, das beste Hotel bewohnte und am gesellschaftlichen Leben teilnahm, um seine Geschäfte abwickeln zu können, gab es nach all dieser Zeit niemanden, der bezeugen wollte, ihn gekannt zu haben.

Als er Therese kennen lernte und die Distanz zu seinem Beruf größer wurde, begegnete ihm in den Thermen einmal ein Mann, der ihm als Etagenkellner bekannt war. Er nickte ihm zu, aber der Mann erwiderte den Gruß nicht, obwohl er Rodrigo gesehen haben musste, und Rodrigo dachte, voller Bewunderung für die Perfektion der in der Stadt gebotenen Dienstleistungen: Man weiß, dass ich nicht hier bin, und jeder hält sich daran!

Stets begleiteten ihn einige Männer seiner Leibwache. Und doch vergewisserte er sich dadurch nur seiner Position. Denn sie garantierten ihm etwas sehr Seltenes: äußere Distanz. Seinen Schutz übernahm ein privates deutsches Wachunternehmen, spezialisiert auf Fälle dieser Art. Deren Männer durften Waffen tragen und arbeiteten mit der örtlichen Polizei zusammen.

Rodrigo war jetzt 42 und hatte das Unternehmen von seinem älteren Bruder übernommen, der in den USA für hundertzwanzig Jahre hinter Gittern saß. Ihr Vater hatte das Geschäft aufgebaut, aber erst sein Bruder hatte es groß gemacht gegen die Konkurrenz aus dem eigenen Land und die international so erfolgreichen Chinesen. Er hatte die katalanische Küste und den spanischen Markt als Sprungbrett für Europa erschlossen, und Rodrigo sah sich nun in einer Generationenabfolge, wo die Gelder wie von alleine flossen und das Unternehmen zu verzweigt war, um einfach zerschlagen zu werden: zu viele Arbeitsplätze hingen davon ab, der kolumbianische Staat würde helfend eingreifen. Die eigentliche Aufgabe für Rodrigo bestand darin, die Gewinne sicher, das hieß: außerhalb des Drogenbereichs, anzulegen.

Manchmal stritt er mit seinem Neffen über seine Arbeit. Alfonso durchlief gerade seine Lehrjahre, arbeitete als Straßendealer, Verteiler und in den Labors und führte unter dem Schutz der Sonderbewachung, auf die er Anspruch hatte, auch wenn er niedrige Arbeiten versah, zwei Mordanschläge durch, auf kurze Distanz, wie er es gewünscht hatte: für den Richter das Messer, für eine Journalistin, nachdem er sie vergewaltigt hatte, die Drahtschlinge.

Alfonso, trotz des modischen Gehabes seiner Jugend nicht cool, sondern stets ein wenig zu nervös, warf seinem Onkel vor, satt und faul geworden zu sein.
Langsam, rief er hitzig, erinnerst du mich an diese fetten Schweine vom Unternehmerverband!
Er schaute ihn herausfordernd an.
Du redest, antwortete Rodrigo ruhig, wie eins von diesen fetten Schweinen von den Gewerkschaften! Willst du vielleicht eine Abreibung, Alfonso? Das kühlt!

Sie rangen miteinander. Der Staub der Reitbahn wirbelte hoch in die Luft und hüllte zuerst ihr Keuchen, dann ihr Lachen ein, als der Ältere den jüngeren unter sich zwang.
Gibst du auf?
Natürlich! Du brichst mir den Arm!
Der Onkel ließ ihn frei, und sie klopften den Staub von ihren Kleidern.
Bald bin ich soweit! sagte Alfonso zufrieden.
Ja, sagte Rodrigo, ohne eine Spur von Hast in seiner Stimme: wenn ich es dir sage!

In Baden-Baden begleiteten ihn Antigua und Helen. Sie traten auf wie Privatsekretärinnen, selbstsicher und distinguiert, dabei ungewöhnlich schön, mit guten Umgangsformen und einer profunden Allgemeinbildung, sodass in Gesellschaft nie jene peinliche Situation entstand, dass man von ihrem Benehmen, ihrer Art sich zu kleiden oder aus dem, was sie sagten, schließen konnte, was sie waren.

Eher kam es vor, dass gutbürgerliche Frauen in der Großen Woche, wenn jeder wusste, dass viele Huren in der Stadt waren, nach ihrem Preis gefragt wurden.
Als sich durch Therese Rodrigos Beziehung zu den beiden veränderte, da er nun mehr ihren Rat als ihren Körper wünschte, fragte er aus einer unbedachten Laune heraus, was eigentlich wirklich von ihnen präsent sei in Baden-Baden.

Antigua antwortete: Das geht Sie nichts an, Senor Abalás! Dann aber verzog sie den Mund noch zu einem Lächeln: Mehr als mein Arsch jedenfalls nicht!
Und Helen, eigentlich die sanftere von beiden, antwortete ebenso ohne zu zögern: Mein Vater nicht, mein Kind nicht, mein Zuhälter auch nicht! - Antigua hat Recht, Senor Abalás: Es geht Sie nichts an!

Jeden Morgen um sechs verließ Rodrigo sein Hotel durch die Gartenpforte, erreichte das andere Ufer der Oos über eine kleine Brücke, die nur Hotelgästen offenstand, und lief die Lichtentaler Allee flussaufwärts - nicht so sehr wegen ihrer Schönheit, sondern weil sie eben war und fast frei von Durchgangsverkehr. Helen und Antigua begleiteten ihn.

Am Ende dieses langgestreckten englischen Gartens lag das Kloster Lichtental, eine alte Zisterzienserinnen-Abtei. Dort wartete ein Wagen auf sie. Manchmal liefen sie zeitig genug, um an der Frühmesse teilzunehmen. Dann frühstückten sie mit den freundlichen Nonnen, und Rodrigo tauschte mit der ehrwürdigen Äbtissin die Wonnen des Schweigens.

Im Lauf des Vormittags besuchten sie die städtische Trinkhalle. Baden-Baden warb vor allem in den Ländern des Machismo mit der potenzsteigernden Wirkung der Friedrichsquelle, und Rodrigo hatte schon in Medellín von ihrer Kraft gehört. Zwar schien es ihm nicht falsch, in dieser Hinsicht vorsichtig zu sein, aber die zweite Indikation war ihm wichtiger: Ein alter Mann hatte ihm erzählt, die Quelle verlängere das Leben. Mit jedem Glas gewinne er einen Tag.

Rodrigo glaubte an solche Vorhersagen und nahm stets einen Vorrat des Wassers mit nach Kolumbien. Im Lauf der Jahre hatte er nicht wenige Menschen sterben sehen, darunter seinen Vater und seine erste Frau. Es war um die Herrschaft über die karibischen Verkehrswege gegangen, und er hatte diese Frau geheiratet, um einen Krieg zwischen seiner Familie und der Familie dieser Frau noch hinauszuzögern.

In Baden-Baden trank er jeden Tag von der Quelle, obgleich sie ihn wegen ihrer Wärme und ihres Geschmacks an dampfende Pferdepisse erinnerte: an seine kleinen, eisenharten Polopferde, wenn sie sich nach ihrem Einsatz, zitternd vor Anstrengung und Vorfreude, endlich erleichtern durften.


Zu dem Zeitpunkt, als die Erzählung einsetzt, hatte er auf diese Weise einen sicheren Vorrat von nicht weniger als neunhundertsiebenunddreißig Tagen.
Manchmal sinnierte er kopfschüttelnd über diese Art Leben. Dann lachte er breit über das schon etwas aufgedunsene Gesicht und spürte zugleich den bitteren Eisenkern der Melancholie auf der Zunge.

Was für eine grandiose Vergeblichkeit! sagte er zu sich. Wahrscheinlich verdanke ich mein Leben einmal der dampfenden Pisse von Pferden!

Rodrigo aß nur wenig zu Mittag. Die opulente französische oder italienische Küche der meisten Hotels behagte ihm nicht. Steaks, Salat, Wasser statt Wein. Dann zog er sich mit Helen und Antigua auf seine Suite zurück. Am Nachmittag besuchten sie die Rennen in Iffezheim. Er wettete große Summen und gewann nicht selten, denn er hatte ein Auge für Pferde, beteiligte sich im Grunde aber nur wegen der beiden Frauen am Spiel - glaubte er doch, diese würden hier einmal vergessen, dass er sie bezahlte, und so schätzte er, was er für ihre naive Begeisterung hielt, fast mehr als ihre eigentlichen Dienste. Ansonsten interessierte ihn das Wetten nicht besonders, und Pferderennen langweilten ihn, schon weil er es gewohnt war, seine eigenen Herden frei über die Weideflächen seiner Haziendas laufen zu sehen.

Irgendwann, wenn die Pferde ihre Runden drehten, nahm Rodrigo die anderen Zuschauer auf der Ehrentribüne zur Kenntnis: die bekannten Gesichter aus dem internationalen Drogengeschäft, die führenden Bankiers, die in der Großen Woche aus allen Teilen Europas nach Baden-Baden kamen, wie Schmeißfliegen auf einen Misthaufen, und schließlich die heimischen Politiker, die sich als Vermittler anboten und nach allen Seiten lächelten.

Nirgendwo in Europa war in der Großen Woche soviel Geld auf einem Fleck wie in dieser kleinen, überschaubaren Stadt. Seit Jahren hatten sich bestimmte Plätze herausgebildet, wo man handelseinig werden konnte, herrschte doch von Medellín und Cali bis Miami und Barcelona die Übereinkunft, dass, wer nach Baden-Baden komme, ein Angebot zu machen habe.

Um das Geschäft einzufädeln, lautete die Frage: Kennen Sie Monsieur Bénazet?
Und die Antwort musste sein: Nein, aber ich werde sie morgen kennen lernen!
Denn es handelte sich bei den Bénazets um Brüder - beide im übrigen seit hundert Jahren tot.

Sie waren es gewesen, die mit Rennbahn, Casino und Theater den europäischen Adel von Paris, wo er vertrieben worden war, zumindest zeitweise nach Baden-Baden lockten, indem sie nicht nur Geschäfte anboten und Restauration, sondern auch die Möglichkeit, sich zu zerstreuen. Man sah sich beim Rennen, auf dem Laufsteg der Lichtentaler Allee, in den Salons der großen Welt oder des Nachts in der Spielbank, nahm sich zur Kenntnis und unterbreitete ein Angebot.

Früher waren vor allem Kriege ausgehandelt worden. Bei den Waffengeschäften traten Rumänen und Tschechen als Produzenten auf, afrikanische und südostasiatische Länder führten die endlos gewundene Schlange der Verbraucher an. Als Vermittler agierten Franzosen und hielten die Waffensysteme in elsässischen Scheunen zur Ansicht.

Aufgrund der Analyse einer Unternehmensberatung spezialisierte sich die Stadt jedoch seit Ende der siebziger Jahre auf Serviceleistungen, wenn es darum ging, Drogengewinne in Europa anzulegen. Der Weg erwies sich als richtig. Eine moderne Thermenlandschaft wurde gebaut, die Sanierung des historischen Viertels vorangetrieben und die Innenstadt durch einen Tunnel vom Verkehr entlastet. Das Geschäft mit den Kurgästen und der Massentourismus liefen eher nebenher, ebenso die Beherbergung von wohlhabenden Alten, die irgendwann kamen, um eine karge Wintersaison mit dem ausserordentlichen Zeugnis ihres langsamen Todes zu bereichern.

Als Rodrigo zur Zeit der Großen Woche einmal mit Therese auf der Terrasse des Parkallee-Hotels zu Abend aß - es war die letzte Rennsaison, die sie gemeinsam erleben sollten -, erlitt am Nebentisch ein älterer Mann, der von zwei Pflegerinnen in Schwesterntracht begleitet wurde, einen Schlaganfall. Er stürzte ruckartig nach vorn, und die Hummergabel, mit der er bis dahin sehr geschickt hantiert hatte, drang dem weisshaarigen, distinguiert und vornehm wirkenden Greis, es war ein französischer Graf, durchs linke Auge in den Stirnlappen des Großhirns, wo der Pathologe später ein Stück bretonischen Hummers im Gemüsesud entfernte.

Die Gäste an den anderen Tischen übergaben sich noch auf der Terrasse. Doch Therese, die drei Kinder geboren und ihren Mann hatte sterben sehen, nahm den Vorfall mit einiger Gelassenheit und versuchte den beiden jungen Pflegerinnen zu helfen. Aber es war nicht mehr viel zu tun.

Als sie gingen, streifte Rodrigo den Körper, der unter einem sauberen Tischtuch ausgestreckt lag, mit einem abschätzigen Blick.
Es ist seltsam, sagte er kühl: Aber hier sterben sie alle so oder ähnlich! Die Todessüchtigen kommen in Massen in diese Stadt, und jeder von ihnen steht plötzlich vor der Notwendigkeit, einen einzigartigen und höchst individuellen Tod zu inszenieren. Es war nicht einmal die schlechteste Art!

Um Angebote einzuholen, schickte man Emissäre. Für diesen Zweck nutzte Rodrigo seine kolumbianischen Leibwächter: Hervé war ein promovierter Jurist, Jean ein Mediziner, der sich an der Ostberliner Charité habilitiert hatte, und Fernando ein Wirtschaftsprüfer, der bei der UNESCO gearbeitet hatte. Diese Männer aßen mit Messer und Gabel, tranken Mineralwasser und diskutierten, sofern Rodrigo sie dazu einlud, mit ihm die Philosophie Heideggers, die Musik von Cage oder die Blechplastiken Chamberlains - und waren darüber hinaus jederzeit bereit, den zahlreichen Morden, die sie bereits hinter sich hatten, weitere hinzuzufügen.

Bis zu Rodrigos Tod war der traditionelle Ort für die Geschäftsabschlüsse die Gönner-Anlage, benannt nach einem früheren Oberbürgermeister der Stadt: ein Jugendstilgarten im französischen Rokokostil, mit unübersichtlichen Hecken, schwer einsehbaren Laubengängen und einer Reihe von einladenden Bänken. In der Saison wurde die Anlage von Arbeitern der Bäder- und Kurverwaltung gepflegt, jeden Morgen und noch einmal mittags, bevor die Hauptgeschäftszeit begann. Die Wege wurden geharkt und gesprengt, Papier aufgesammelt, Zigarettenkippen aus den Sträuchern entfernt, Cola-Dosen und Präservative. Eine Sondereinheit der örtlichen Polizei durchsuchte den Garten nach Sprengkörpern und Mikrofonen, zog sich sodann diskret zurück und achtete darauf, dass die Geschäfte nicht durch Liebespaare, Journalisten oder spielende Kinder gestört wurden.

Rodrigo sah dort für den Nachmittag eine Stunde vor, um seine Geschäfte abzuwickeln. Er hatte sich bei der Bäder- und Kurverwaltung von sechzehn bis siebzehn Uhr eine bestimmte Bank reservieren lassen, wo die schon abendliche Sonne sein jeweiliges Gegenüber blendete. Die Zeit war knapp. Bankiers und Großindustrielle wurden in Abständen von fünfzehn Minuten bestellt, Politiker hatten zehn Minuten und waren aufgefordert, sich daran zu halten. Nicht selten erschienen sie zu früh und standen dann in einer kleinen englischen Warteschlange, bis man sie vorließ.

Rodrigo verachtete diese Unterwürfigkeit und schätzte bei seinen Freunden einen mit Widerhaken gepaarten Geist, geeignet, über die wichtigen Dinge im Leben zu reden - vor allem aber über die Liebe.

Therese sagte einmal, als sie schon einige Nächte mit ihm verbracht hatte und ihn ein wenig besser kannte: Vielleicht ist das sein eigentliches Talent: wie er über die Liebe redet.

Denn der Südamerikaner wusste um das wechselhafte Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Männern und Frauen und schien, jedenfalls zu Beginn, nicht zu den Männern zu gehören, die sich in den fruchtbaren Landschaften der Einsamkeit verirrten, wie viele seiner Art. Vielmehr versuchte er sich gegen den eigenen Machismo mit Selbsterkenntnis zu wappnen: Der tückische Furunkel sollte aufbrechen, sobald Rodrigo die Distanz zu sich verlor. Doch letztlich kam, was er über sich selbst erfuhr, stets auf lächerliche Weise zu spät, um sein Leben noch zu ändern. Und nicht selten wurden Erfahrung und Erkenntnis auch bei ihm überlagert von einer kunstvoll auf seinen skeptischen Geist zugeschnittenen Form von Melancholie.

Helen und Antigua saßen neben Rodrigo auf der Bank, hörten aufmerksam zu, sagten nie ein Wort und vergaßen alles, wenn sie sich Schlag siebzehn Uhr zusammen mit Senor Abalás erhoben. So verliefen die Tage. Abends lud man befreundete Südamerikaner ein, Franzosen aus Straßburg oder Paris, nur wenige Deutsche. Zumeist trafen sich acht oder zehn Personen. Die Gespräche hatten die Entwicklungen der Zeit zum Thema, die Literatur, die Künste, weshalb nur selten Bankiers oder Politiker teilnahmen.

Rodrigo hatte an der Sorbonne Philosophie und Jura studiert und war häufig mit Intellektuellen zusammen gewesen, mit Filmemachern, Literaten, Universitätsprofessoren. Nur die wenigsten wussten, welcher Art von Geschäften der scheue Kolumbianer mit der französischen Mutter und dem indianischen Vater nachging. Wer es erfuhr, vergaß es bald wieder, oder es wurde ihm letztlich egal.

Spät am Abend besuchte Rodrigo noch das Casino, dessen lärmende Prunkhaftigkeit ihn an den archaischen Geschmack seines Vaters erinnerte. Diesem war bei einer Wette ein Haus aus der Kolonialzeit zugefallen, im unruhigen Grenzgebiet zu Ecuador, und sobald er es im Kokaingeschäft zu etwas gebracht hatte, stattete er das schlossartige Anwesen mit allen barocken Kostbarkeiten aus, die er in europäischen Herrenhäusern und Adelssitzen auftreiben konnte.

Rodrigos Mutter sagte zwar: Schweine grunzen auch, wenn man sie auf Daunen bettet!
Aber sein Vater kannte sich aus mit den gelehrigen Tieren und grinste nur zufrieden.

Er hatte diese Frau auf der Avenue de l'Opéra in Paris gesehen und durch einen großzügigen Vertrag an sich gebunden: bis zwei Söhne geboren, erzogen und herangewachsen waren. Und Rodrigo, sein zweiter Sohn, ging nun jeden Abend ins Casino von Baden-Baden, um zwanzig- oder dreißigtausend Mark zu verspielen - als eine Art Ausgleich (man vermied das Wort Bezahlung) für den Service, den die Bäder- und Kurverwaltung bei der Abwicklung der Finanzgeschäfte bot.


Am Nachmittag jenes Tages, an dem Rodrigo Abalás noch einen Vorrat von neunhundertsiebenunddreißig Tagen hatte, lief gegen sechzehn Uhr dreißig eine Fünfjährige durch die Gönneranlage und hielt geradewegs auf die Bank zu, die er gemietet hatte. Ein Windstoß bauschte Haar und Kleidchen des Kindes und machte sie für den Augenblick durchlässig für einige Sonnenstrahlen. Es sah sehr hübsch aus.

Rodrigo verhandelte gerade mit einem hanseatischen Bankvorstand, der anbot, eine Summe von fünf bis sieben Millionen Dollar mit Achteinviertel auf drei Jahre zu verzinsen und nach Ablauf der Frist, das war das eigentlich Interessante, Kapital und Zinsen sicher nach Zürich zu transferieren.

Zwanzig Schritte vor der Bank stürzte ein Polizist in Zivil hinter einem der Rosenbüsche hervor, packte das Kind, hob es spielerisch in die Luft und setzte es mit den Worten: Geh schön spielen, aber nicht hier! wieder auf den Boden, damit es in die Richtung zurückliefe, aus der es gekommen war.

Der Polizist, ein junger Mann mit einem freundlichen Gesicht, beugte sich noch einmal über die Schulter des Mädchens und flüsterte ihm etwas zu. Dann schob er es vorwärts. Doch das Kind ließ sich fallen und begann laut zu schreien. Der Polizist wollte es aufheben und wegtragen, aber es strampelte wild mit den Beinen, trat um sich und schrie noch mehr.

Durch die torbogenartige Öffnung der Hecke erschien nun eine Frau, die einen Kinderwagen schob und ein weiteres Kind auf dem Arm trug. Auf den ersten Blick mochte sie dadurch schwerfällig wirken. Doch als sie ihre Älteste auf dem Boden sah, über ihr den fremden Mann, ließ sie ohne Zögern den Kinderwagen stehen und fiel, mit dem Kind auf dem Arm, ganz wie man es sich von heroischen Darstellungen der Malerei, des Films und der Literatur denken kann, über den Mann her, stieß ihn beiseite, sodass er rückwärts in die Dornen stolperte, und hob die Kleine vom Boden auf. Jetzt hatte sie beide Arme voll, und von den umliegenden Bergen stürzten sich die Indianer auf die Postkutsche.

Therese war Mitte dreißig, hatte drei Kinder und einen Mann, der vor einem Jahr bei der Geburt des jüngsten Kindes gestorben war. Seither bekämpfte sie das Leben allein, glaubte auch schon, es so langsam gelernt zu haben: und nun das!
Sie war weder hässlich noch besonders schön, doch der Wunsch, wieder geliebt zu werden, ließ sich seit geraumer Zeit nicht mehr verbergen. Ganz rücksichtslos hatte er sich nach außen gekehrt und teilte sich nun mit durch die schmerzhafte Intensität, mit der sie die Lebendigkeit ihrer Bewegungen zu unterdrücken versuchte. Aber der Wunsch legte sich auch über ihr Gesicht: als eine auf anrührende Weise aufreibende, weil allgegenwärtige Sinnlichkeit.

Danach befragt, würde sie, schon etwas resigniert, antworten, dass die Liebe nicht das ist, was man sucht, sondern das, was man findet!
Und obwohl Therese dergleichen nie für möglich gehalten hatte, rief sie nun, von fünf kräftigen, ihr unbekannten Männern bedrängt, laut um Hilfe.

Don Rodrigo Abalás jedoch erinnerte sich, als Thereses Blicke sich für einen kurzen, zufälligen Augenblick mit seinen trafen, an das, was seine Mutter am Abend des Tages sagte, an dem er seine zukünftige Frau ins Haus seiner EItern eingeführt hatte. Er sollte sie heiraten, weil ihre Familie einen beachtlichen Teil des karibischen Drogenhandels kontrollierte. Das Ganze war eine Idee seines Vaters gewesen, und nun ging es nur noch darum, die Form zu wahren.

Doch war seine Mutter an jenem Abend in sein Zimmer gekommen und hatte sich auf sein Bett gesetzt, wie früher, als sie ihn noch gegen die bösen Geister beschützte, die nachts aus dem Urwald kamen.
Was willst du mit ihr? hatte sie traurig und ohne Rücksicht auf seinen Vater gefragt: Sie hat keine Sehnsucht!
Aber diese Frau, dachte Rodrigo, hat eine Sehnsucht! Auch seine Mutter hätte das zugeben müssen!

Er bediente sich nicht seiner Leibwächter, sondern sprang selbst auf, riss den Polizisten, der Therese gepackt hatte, zurück und zischte im glühenden Spanisch der Pferdejungen, er werde ihn töten, wenn er sie noch einmal berühre.
Doch da war schon ein Polizeioffizier zur Stelle, der die heikle Situation erkannte: ein Wink, und die Männer verschwanden.

Rodrigo sprach kaum Deutsch. Wo nötig, übersetzten Helen und Antigua für ihn. Nun machte er die Erfahrung, dass es Situationen gab, wo er etwas sagen, aber nicht übersetzt werden wollte.
Er stellte sich dieser Frau förmlich und unter Hinzufügung sämtlicher Geburtsnamen vor. Da die Kinder immer noch weinten und Therese immer noch zitterte, bat er sie, sie möge sich setzen. Dann verscheuchte er mit einem Wink die Leibwächter, die ihrerseits die noch wartenden Bankiers vertrieben.

Therese war verwirrt und fühlte keine Kraft mehr in den Beinen. Deshalb kam sie der Bitte nach. Zu ihrer Überraschung entspannte sich jedoch die Situation nun rasch. Tania, das Baby, schlief wieder ein, und den beiden Älteren zeigte Rodrigo, wie man Kieselsteine und Rosenblätter in den benachbarten Josefinen-Brunnen warf.

Therese sah ihnen eine Welle aufmerksam zu. Irgendwann lehnte sie sich zurück, breitete die Arme aus und wagte es, ab und zu die Augen zu schließen: nur kurz, weil sie wusste, dass alles ein Traum war (...)
_______________________________
siehe auch: Bald reit' ich davon


12
Jan
2009

Bald reit' ich davon - Stadtschreiber in Baden-Baden

babaDas Baldreit-Stipendium von Baden-Baden war für einen 'artist in residence' ausgelegt: d.h. man erwartete, dass der Aufenthalt des Stipendiaten/der Stipendiatin (der/die ein Komponist, ein bildender Künstler oder ein Autor sein konnte) innerhalb von 12 Monaten irgendeine Wirkung für die Stadt zeigte. In dieser Zeit hatte man eine kleine Dachwohnung unterhalb des Schlosses ('Im Baldreit') zur Verfügung.

Ich hatte in der entscheidenden Jurysitzung (ca. 20 Juroren gegen jeweils einen Bewerber) erklärt, das Jahr über "häufig und intensiv", aber nicht ständig in der Stadt sein zu wollen. Schließlich hatte ich Familie, zwei kleine Kinder. Als man nachhakte, wollte ich wissen, ob das Stipendium von vorn herein so angelegt sei, dass Bewerber mit Familie davon ausgeschlossen seien. Es gab ein großes Dementi, vor allem von Seiten der christlichen Mehrheitsfraktion.

Das allein bringt einem jedoch noch kein Stipendium. Vielmehr legte ich ein detailliertes Programm vor. Ich beschrieb darin, was ich mir unter einer Literatur vorstellte, die eingefahrene Distributionswege verließ: Ich wollte auf einer Litfasssäule in der Fußgängerzone regelmäßig Texte veröffentlichen, einmal im Monat eine Art Literatursprechstunde abhalten und Auszüge der neu entstehenden Texte als Kopien in verschiedenen Kulturinstitutionen für Interessierte zur Verfügung stellen. Mir Litfass1schwebte ein literarisches Netzwerk vor.

Noch am Abend reiste ich zurück nach Frechen, wo ich damals mit meiner Familie lebte, und kam nach Mitternacht zuhause an. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel meiner Frau: "Du hast das Stipendium!"

Der neue Stadtschreiber wurde in einer feierlichen Veranstaltung eingeführt (Laudatio, ein Trio mit klassischer Musik, Oberbürgermeister etc. sowie etwa 100 Zuhörer). Ich hatte meinerseits eine Antrittsrede vorbereitet: 'Über die Liebe im öffentlichen Raum'.

Gemeint war natürlich die körperliche Liebe, und hier und da ging ein Raunen durch den Saal. Man hatte einen braven, gutbürgerlichen Künstler mit Familie und kleinen Kindern erwartet. Etwas Liebes und Nettes...

"(...)Kennen Sie einen Politiker, welchen die der körperlichen Liebe gewidmeten Nächte (von Tagen wage ich nicht zu reden) so mitgenommen haben, dass er erst einmal - halb sich entschuldigend, halb noch entzückt - an das 'Meine sehr geehrten Damen und Herren' anfügen muss: 'Ich habe fast die ganze zurückliegende Nacht damit verbracht, mit meiner Frau zu schlafen, bzw. mich von ihr lieben zu lassen - wundern Sie sich deshalb bitte nicht, wenn Sie in dieser Debatte einen zwar glücklichen, aber schläfrigen Menschen vor sich haben, dem die Auswirkungen der letztjährigen Anhebung des Gewerbesteuersatzes im Augenblick ziemlich fern sind...'
Sind bei uns Politiker denkbar, Manager, Funktionäre und andere, die in den Augen der Öffentlichkeit etwas Wichtiges zu tun scheinen, die sich so der Liebe, genauer: der körperlichen Liebe aussetzen?(...)"

Baden-Baden war gewarnt.

Die landschaftlich idyllisch gelegene Stadt war - bei vergleichbarer Größe - so ziemlich das genaue Gegenteil der Industrie- und Arbeiterstadt Frechen, wo ich seit einigen Jahren lebte. Luxushotels- und Luxusgeschäfte. Pferderennbahn, staatliche Kunsthalle, Spielcasino und Thermen, viel Geld und die 'bessere' Gesellschaft. Zahllose Seniorenresidenzen und allenthalben adrette Sauberkeit. Hier zählten vor allem die nützlichen Beziehungen, und hier gab es den guten Ton, der an Haben oder Nichthaben anknüpfte. Business und Wellness: dafür stand das Tourismuskonzept der Stadt, als dessen verlängerter Arm auch der Baldreit-Stipendiat angesehen wurde.

Sodann die legendäre 'Große Woche', in der sich jährlich all das verband: in der Woche von August zu September traf sich seit dem 19. Jh. der europäische Hochadel, um amouröse Allianzen und Geschäfte zu machen - oder Kriege auszuhandeln.

Diese Andersartigkeit, auf die ich traf, erwies sich für mich als literarisches Lebenselixier. Ich begann schon nach ein paar Tagen ins Blaue hinein zu schreiben, abgesichert nur durch ein Netzwerk, das Wellershoff einmal "strukturelle Phantasie" genannt hat.

In einigen der Erzählungen und Texten, die in diesem Jahr entstanden, ging es um Dreck und Exkremente, organisiertes Verbrechen, Prostitution, verkrüppelte Menschen, Geldwäsche und Drogensucht. Alles Dinge, mit denen Baden-Baden nichts zu tun hatte... Fokussiert in der Liebesgeschichte eines kolumbianischen Drogenbarons mit einer badischen Hausfrau, einer Witwe mit drei Kindern.

Ich veröffentliche diese Erzählung zu Beginn der Baden-Badener 'Großen Woche': die ersten Seiten des etwa dreißigseitigen Textes waren (wie schon bei anderen Texten) handschriftlich auf der Litfasssäule zu lesen:

Wie jedes Jahr trafen sich zur Großen Woche die schönsten Huren Europas, die reichen südamerikanischen Drogenbosse, Banker, Industrielle und Politiker, um Geschäfte zu machen.(...)
Kopien des ganzen Textes waren wie üblich in der Stadtbücherei, im Kulturamt und an anderen öffentlichen Stellen ausgelegt.

Als Folge zeigte sich in den Tagen darauf schroffe Ablehnung, die in einer Erklärung des Oberbürgermeisters vor dem Rat der Stadt kulminierte: "Zahlreiche Bürger, die ständig im Rathaus anrufen, ihrem Ärger Luft machen, wünschen vehement ein Wort des Oberbürgermeisters und fordern Konsequenzen". Man hoffte, der Stipendiat J. L. werde die schöne Stadt an der Oos möglichst bald verlassen. Die örtliche Presse beklagte die Undankbarkeit gegenüber dem städtischen Mäzen. In die Literatursprechstunde kamen brave Patrioten, um mich zu beschimpfen.

buettenstrAber ich wurde auch von wildfremden Leuten angesprochen: etwa wenn ich mit dem Kinderwagen in der Fußgängerzone unterwegs war und man zeigte sich glücklich, dass ich den Geist (und den Nerv) der Stadt getroffen hatte.

Ich habe meine Arbeit als Stadtschreiber in Baden-Baden getan. Ein literarischer Text wurde zum Stadtgespräch. Mehr war in der Stadt an der Oos für mich nicht zu erreichen. Auf dem Höhepunkt der Debatte verfasste ich in Reaktion auf Artikel in der Badischen Zeitung folgenden Leserbrief, der auch abgedruckt wurde:

"In obengenanntem Artikel stellten Sie in Ihrer Ausgabe vom 31.8. einige Behauptungen auf, die unrichtig sind. Im einzelnen: Sie behaupten, daß ich der 'sogenannte Baldreit-Stipendiat' bin. Das ist unrichtig. Richtig ist, daß ich der Baldreit-Stipendiat bin. Ferner behaupten Sie, daß ich mich 'fern von Weib und Kind' aushalten lasse. Das ist unrichtig. Richtig ist vielmehr, daß ich mich in Frechen oder Baden-Baden zusammen mit Weib und Kind aushalten lasse. Unrichtig ist auch die folgende Behauptung: 'Immer wenn es ihn überkommt, schreibt er sich seine Wallungen von der Seele.' Richtig ist, daß ich feste Arbeitszeiten habe, in denen ich schreibe. Endlich schreiben Sie, daß mein Romanheld Rodrigo auf der letzten Seite durch eine mit Stacheln bewehrte Kastanie getötet wird. Das ist unrichtig. Richtig ist, dass er bereits auf der drittletzten Seite durch eine Gewehrkugel umkommt. Zum Schluß behaupten Sie noch, daß ein 'richtiger Künstler' nicht verzagt. Das ist unrichtig. Auch ein richtiger Künstler verzagt."

11
Jan
2009

Selhofer Straße

josalon

Wer hier fortging, sah auch Menschen, die blieben.
An Sonntagnachmittagen flogen
Federbälle über die Dächer, und
zur Kaffeezeit trafen sich alle
prüfenden Blicke.

Zeit war ein Fass mit schwerem Heizöl;
später eine Flasche,
halbgefüllt mit Benzin.
Der Fortschritt: ausgehöhlte
Pappschachteln
in einer staubigen Auslage,
nachgedunkelt die Vergangenheit,
ein Fleck über dem Volksempfänger,
uns eingebrannt wie das Kreuz
über der Tür.

.
Bis ich es genau wusste:
dass ich verlassen war unter allen,
blieb ich Kind, grüßte
Veteranen der Einsamkeit,
mit ihren knorrigen Spazierstöcken
und einem schleifenden Schritt, zurückgeblieben
von Gängen über erobertes Land.
Die Brüste der kleinen Mädchen wuchsen
hinter erleuchteten Fenstern, die ich verloren um-
strich, Bewohner einer anderen Welt.

Schlachttage, im Feuer der Erinnerung.
Grieben springen vom Rost
in den löchrigen Mund.
Unter den Fenstern der Häuser
versammelte sich die polypenarmige Ungeduld
der Katzen. Der Tod schritt stolz durch die Straße
und am helllichten Tag und unbehelligt von Zweifeln,
und Gott war unter der Ladentheke des Friseurs
und errötete, als ich sein gehorsames Kind
nicht mehr war.
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Erzählen

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Belle Oppenheim
Frederik Biografiearbeit Southern Belle
Johanna Tweets
Demenz Carl Kleider 1989
Patrizia Alzheimer Frechen
ich artist in residence
Gia Böll Köln

Amélie
Narff
Gedichte Johnny 2001
Bettina Leipzig Alltagsbetreuer Liebe am Nachmittag Haiku

:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Budapest im Sommer 1989. Rosalind van Achten und Tom...
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_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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